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Unzustellbare Briefe
Erzählungen

E-Book (EPUB) - Erscheinungsjahr 2024von Anna Mitgutsch

Kurztext / Annotation
Sie faszinieren - im Guten wie im Schlechten. Anna Mitgutsch schreibt Porträts außergewöhnlicher Menschen: In Briefform ergründet sie Bruchstellen im Leben, zeichnet fein ziselierte Psychogramme und schildert das Unausgesprochene in vergangenen Beziehungen. Die Großmutter im Böhmerwald, die erste große Liebe im Amerika der Hippiezeit, die feministische Dichterin in West Virginia. Es sind Begegnungen, die das Bild einer ganzen Generation aufleben lassen. Literarisch kunstvoll, eindringlich, couragiert. Geschichten, bei denen Mitgutsch aus Erlebtem, Erfahrenem schöpft und immer wieder die eigene Biografie mit erfasst - von der Kindheit in Oberösterreich, den zahlreichen Reisen und Aufenthalten in England, Korea und Israel, bin hin zu den prägenden Jahren in den USA.

Anna Mitgutsch, 1948 in Linz geboren, unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen und erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Solothurner Literaturpreis sowie jüngst den Adalbert-Stifter-Preis. Sie übersetzte Lyrik, verfasste Essays und zehn Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.

Textauszug
Was du für mich warst
Du lehrtest mich das Geschichtenerzählen. Du lehrtest mich, dass es keiner Leistung und keiner Bestechung bedarf, um geliebt zu werden. Du lehrtest mich die Lieder deiner Kindheit, über die du schwiegst. Du fülltest meine Kinderjahre mit Wärme und Phantasie, und am Ende blieb nichts als das Haus deiner alten Tage und auch das ist nun verschwunden. Sogar dein Name auf dem Grabstein wurde von deinem Enkel, der die Grabstatt erbte, getilgt. In wessen Gedächtnis außer dem meinen lebst du noch fort? Ich setze meine Erinnerung in die Welt der Worte, wie du es tun musstest, um in der Abgeschiedenheit zu überleben. In einem Austragshäusl auf einer Lichtung des Böhmerwaldes, zwei Stunden auf Schmugglerpfaden südlich der tschechischen Grenze, eine Stunde vom Dreiländereck des Hochfichts, auf einem gerodeten, mit Granitfindlingen durchsetzten Berghang. Das Haus, der steinerne Brunnen davor, an dem man sich an kühlen Sommermorgen wusch, die Himbeerschläge und Heidelbeeren am Waldrand, die Pilze im regentriefenden Unterholz, die Blumen der Hochebene, die ich seither nirgends mehr gefunden habe, und die Stille, in der deine Geschichten vom Kristallpalast am Ufer des damals unerreichbaren Plöckensteinsees, dieses schwarzen Auges der Finsternis, ihr Geheimnis bewahren. Ich wünschte, du hättest mir mehr von dir erzählt. Ich weiß erst seit kurzem, wann du geboren bist, zu Anfang des Winters vor fast hundertfünfzig Jahren, aber Geburtstage wurden nicht gefeiert, zu ungeplant und gefährdet waren Geburten, um das Schicksal auf sie aufmerksam zu machen. Es gibt kein einziges Foto von dir als junge Frau, auch nicht als zweiundzwanzigjährige Braut. Du musst diesen Häuslerssohn mit dem tatarischen Aussehen und der karpatischen Herkunft sehr geliebt haben, um das Dorf im Tal mit dieser ärmlichen Bauernkate zu tauschen, die nur Armut, Einsamkeit und schwere Arbeit versprach. Die Ehe und vielleicht auch die Liebe hielt über vierzig Jahre, sie überdauerte zwölf Schwangerschaften, vier tote Kinder, die Hungersnot nach dem Ersten Weltkrieg, die schwächliche Konstitution des Mannes, die dir alle Lasten der Landwirtschaft auflud, während er sich als Waldarbeiter verdingen musste. Am Ende seines Lebens war sein Körper so ausgeschunden, dass er nicht mehr aufrecht gehen und den Kopf nicht mehr heben konnte. Du hast ihn um achtzehn Jahre überlebt und mir nie von ihm erzählt, aber erwähnt hast du ihn stets wie einen, auf dessen Urteil man sich verlassen konnte. Der Vater, sagtest du, nie nanntest du ihn beim Namen und nie: mein Mann. Von dieser Liebe gibt es späte Fotos, auf denen ihr an der sonnenbeschienenen Hausmauer sitzt, zwischen den jüngsten halbwüchsigen Kindern, wie schwer arbeitende Leute am Feierabend, gelöst und zufrieden in einem schweigsamen vorsichtigen Behagen, die Hände im Schoß und einander leicht zugeneigt, immer noch, nach so vielen Jahrzehnten und Schicksalsschlägen. Nach dem elften Kind schenkte er dir eine schöne, schwarz lackierte Nähmaschine mit Goldverzierung und dieses Kind, meinen Vater, liebtest du ein wenig mehr als die anderen zehn, weil es so zart war und das erste Jahr nur knapp überlebte, wo du doch das Jahr zuvor ein zwei Monate altes Mädchen verloren hattest. War denn der Tod eines Säuglings ein großer Verlust? Man taufte die Kinder am Tag ihrer Geburt, spätestens am nächsten, damit sie wenigstens als Christenkinder starben. Hast du um diese kaum in die Welt gekommenen Kinder getrauert oder war ihr Tod eine Erleichterung bei dem kargen Leben? Vielleicht war das Verenden der einzigen Kuh im Stall eine größere Katastrophe, jedenfalls ein größerer Schaden für die Lebenden. In der Zeit der Hungersnot, als die Soldaten mit Bajonetten das Heu nach versteckten Lebensmitteln durchsuchten, als das Brot aus Kleie und Schrot in der Schüssel zu Grütze zerfiel, gingst du mit deinen jüngeren Kindern über die Grenze hamstern und schmuggeln. Drüben, in der Tschechosl

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

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Produktinformation

Seitenzahl 320
Erscheinungsjahr 2024
VerlagLuchterhand Literaturverlag
SpracheDeutsch
Zusatzinformationen 320 Seiten
ISBN 978-3-641-30829-2

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